Seit Wochen treffe ich jeden Vormittag auf dem Weg vom Bahnhof zur Arbeit diesen Schwarzen. Zu Anfang hab ich ihn nur genau angesehen, weil mein Gehirn – nicht an dunkle Gesichter gewöhnt – in jedem Maximalpigmentierten einen unserer Jungs gesehen hat.
Das hat er wohl gemerkt. Irgendwann hat er angefangen, mich zu grüßen, ganz schüchtern, die Hand nicht über Hüftniveau gehoben.
Mittlerweile vermisse ich ihn, wenn er sich mal ein wenig verspätet.
Aber wer ist dieser Mann, dessen Gesicht mir schon so vertraut ist, ohne dass ich jemals mit ihm gesprochen hätte?
Ist er einer dieser sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, die hierher gekommen sind, um fleißig die Arbeit zu verrichten, die die meisten Deutschen ohnehin nicht machen wollen, und sich trotzdem anhören müssen, sie würden uns die Arbeit wegnehmen? Und natürlich schimpfen unsere Arbeitslosen mit geringem sozialen Status und wenig Ausbildung über ihn, weil er ihnen zeigt, dass eine miese Herkunft keine Entschuldigung ist, nichts mehr zu versuchen.
Grüßt er deshalb nur verhalten mit der erhobenen Hand, weil er unsere Sprache nicht beherrscht?
Oder ist er einer der Gesichtsausländer, vielleicht der Sohn eines afroamerikanischen Soldaten, in Deutschland geboren, der mit seinem deutschen Pass und den perfekten Sprachkenntnissen die Farbe seiner Haut nicht ausradieren kann? Spricht er vielleicht gerade deshalb nicht, weil er die Erfahrung gemacht hat, dass unsere deutschen Gehirne eine dunkle Hautfarbe mit einem sächsischen Dialekt nicht zusammenbringen können?
Schämt er sich seiner Hautfarbe? Seine Augen lachen immer, wenn wir uns sehen, und dennoch hebt er die Hand nicht über die Hüfte.
Was für Geschichten könnte er wohl erzählen, wenn wir mehr Zeit zusammen hätten als diese dreißig Sekunden vormittags auf dem Lehrter Bahnhofsgelände? Geschichten von einer Kindheit in Afrika, Hitze und Armut und Kindersoldaten? Oder von einer Schulzeit in Deutschland, als einziger Schwarzer der Klasse, gleichzeitig Faszination und Abscheu hervorrufend, immer der Buhmann?
Welchen von meinen Geschichten würde er voller Interesse zuhören? Welche Fragen könnte er mir beantworten? Welche Meinung hätte er zu meinen ach so wichtigen Problemen?
Und warum nur schwätzen wir mit Fremden über Fußballergebnise und das Wetter, anstatt uns gegenseitig ein Stück unseres Lebens zu schenken?
Ich glaub, nächste Woche schwänzen wir mal unsere jeweiligen Termine, und ich lade meinen Schwarzen auf einen Kaffee ein. Wenn nicht jetzt, wann dann?
(erstmalig veröffentlicht: 08.08.2017)
Und – hast du es gemacht?
Du hast das so wunderbar facettenreich ausgeleuchtet, danke!!!
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danke! Und nein, habe ich nicht. Ich habe zu länger gezögert und irgendwann kam er nicht mehr
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