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Schreiben – ein Spiel aus verschiedenen Perspektiven

Reisegepäck auf einer Bahnhofsbank

(entstanden im und um das erste Wochenende im Schreibhain in Berlin)

1. Die Geschichte meines Schreibens ist eine Geschichte der Flucht. Und die normale Geschichte eines kleinen, einsamen Mädchens. Nicht, dass ich wirklich was zu sagen gehabt hätte. Nicht, dass jemand zugehört hätte. Das Papier hat zugehört. Und Papier ist bekanntlich geduldig.

Als mittlere von viel zu vielen Geschwistern war das Schreiben endlich ein Raum für mich, ein Raum, über den ich die volle Kontrolle hatte. Hier wurden keine Eltern beim Streitschlichten vermisst, hier gab es keinen Lärm, hier hatte nur ich Macht.

Ich konnte die kindlichen Abenteuer erleben, die für uns unbezahlbar waren, als Jugendliche meine Gefühle ausleben, ohne sie verstehen oder gar erklären zu müssen. Ich konnte mich gegen die Bullies in der Schule auflehnen, Amoklaufen, mich umbringen – ohne jede Konsequenz.

Ich konnte jede Minute neu beginnen. Ohne lästige Altlasten, ohne durch Vorerfahrungen gebildetete Erwartungen, konnte jemand anders sein. Konnte mich zu Wort melden und darauf bestehen, beachtet zu werden.

Und wenn niemanden meine Texte interessierten? So what? Es waren doch eh alle nicht schlau genug, mein Genie zu erkennen.

Ich konnte Gott und Teufel sein, je nach momentaner Stimmung. Und wenn ich gar nicht sein wollte, habe ich den Stift weggelegt. Einfach geschwiegen.

Manchmal war Schreiben eine Therapie für mich, manchmal Selbstverletzung. Segen und Fluch zugleich. Es hat mir in der Schule Beachtung beschwert, Freunde nicht.

Das Papier blieb lange mein einziger Frund.

Schreibend habe ich Mauern gebaut, erst zwischen mich und die Welt, dann immer mehr in mir drin, konzentrische Kreise aus Wortziegelsteinen, Sprachspielen, die alles ins Fiktionale rücken, selbst das intimste Gefühl.

Ich weiß schon lange nicht mehr, wer ich bin.

Die Geschichte meines Schreibens ist eine Geschichte der Flucht. Und weil sie so früh begonnen hat, weiß ich nicht mehr, wovor. In jeder meiner Figuren habe ich einen Teil meiner Selbst verloren. Erst den kindlichen Spieltrieb, dann den jugendlichen Welthass. Was geblieben ist, ist mehr oder weniger gleichgültig.

Ich habe mich schon lange nicht mehr umgebracht. Vielleicht, weil nicht mehr genug am Leben ist.

Ich habe das Schreiben vom Papier gelöst, sodass ich jetzt ein völlig fiktionales Leben führe – das einer liebenden Tochter, einer fürsorglichen Schwester, einer hingebungsvollen Partnerin, einer engagierten Dozentin, einer knallharten Analytikerin, einer diskussionsfreudigen Philosophin – ob ich irgendeines davon bin, oder alles, oder nichts. Keine Ahnung. Ist auch egal.

Die Philosophin in mir weiß, dass die Einheit des Ichs eine Illusion ist. Wer tief genug in sich selber schaut, findet immer einen Roman mit hunderten Protagonisten. Und die Geschichte meines Schreibens war immer eine Geschichte der zwanghaften, gnadenlosen Selbstreflexion.

Die zwangsweise in den unendlichen Regress mündet, denn man kann alles anzweifeln, sogar die eigene Existenz.

Ich weiß nicht, ob das Schreiben mir wirklich gut tut. Aber ich kann nicht anders. Da ist so viel in mir drin, was raus will, raus muss, damit ich es nicht mehr betrachten muss.

Und da von mir selbst nicht mehr viel mehr übrig ist als das Schreiben selbst, kann ich mich endlich vom autobiografischen Schreiben der Schulzeit lösen.

Ich bin eine Bibliothek ungeschriebener Bücher. Ich greife einfach eines heraus und lege los. Und es ist alles dabei: Thriller, Fantasy, Liebesromane, Gesellschaftskritik. Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, Theaterstücke, Essays. Just name it.

Vor lauter Geschichten in mir drin kann ich mich an selbst großartige Erlebnisse später oft kaum noch erinnern. Aber die Welt um mich herum hat mich wohl noch nie sonderlich interessiert.

Die Geschichte meines Schreibens ist voll großartiger Traurigkeit und doch so traurig banal, wenn ich sie überall wieder finde, bei Hesse, bei Camus, bei Nietzsche sowieso. Und diese meine einzigen wirklichen Freunde geben mir immer wieder das Gefühl, ich sollte endlich aufhören zu jammern und etwas Vernünftiges lernen, bei meinem Talent zum formalen Denken wäre ich bestimmt ein ganz hervorragender Ingenieur. Was ich zu sagen habe, ist hundertfach gesagt. Und falls es doch noch irgendjemand lesen will, kann er sich Sartres „Ekel“ vornehmen, oder Hesses „Steppenwolf“. Die konnten das eh viel besser als ich und sind glücklicherweise tot, müssen sich also nicht mehr ernähren.

Etwas Großartiges schreiben und dann sterben, das war schon mit acht Jahren alles, was ich wollte. Aber ich habe beides bis heute nicht geschafft.

Also schreib ich immer wieder die Geschichte meines chronischen Nervenzusammenbruchs, verschwende Tinte, wenn ich schon keine Tränen mehr zu verschwenden habe, und stolpere auf einem Bein die akademische Karriereleiter hoch.

Wenn ich mich endlich darauf festlegen könnte, ginge das sehr viel schneller.

Die Geschichte meines Schreibens ist auch die Geschichte des permanenten Selbsthasses wegen des Schreibens. Der Beschäftigung der Müßiggänger. Ich hasse mich dafür, dass ich schreiben muss, dabei könnte ich die Zeit so viel sinnvoller nutzen, zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe. Aber nur wenn ich schreibe, merke ich nicht, wie sehr ich mich hasse.

Und ich liebe meine Texte.

Aber kreative Menschen sollen ja wohl zwischen Extremen pendlen.

Die Geschichte meines Schreibens ist eine Geschichte von Zerrissenheit und Schmerz und wenn ich sie irgendwo lesen würde, würde ich denken, was für ein selbstmitleidiger Kitsch, was für eine Selbstdarstellung.

Und um vor dieser Einsicht zu flüchten, bleibt mir nur eines – weiter zu schreiben.

2. Der Geruch von Genitiv und Kaffee setzt Kausalketten außer Kraft, schafft Konklusionen ohne Prämissen, von hellleuchtender Evidenz. Die Grubenlampe flackert.

Mit Platon in der Grube die Schatten zum Tanzen bringen, ihre Konturen an die Wand malen, in Lila und Pink, weil – warum auch nicht?

Einfach mal ausprobieren.

So schmeckt Spiel. Selten so schnelle Schätze säuselnder S summiert. Das Licht der Freiheit. Hier mal kein Zweck, kein Ziel, kein Z. Kein Ende.

Alles A. Aber auch aller Anfang atmet Angst. Zulassen.

Schwingen. Zwischen Buchstaben und dem Klang von Partizipien. Wen interessiert schon Grammatik.

Einfach weiter tanzen. Leben ist morgen. Jetzt ist jetzt. Tautologisch träge. Schwermütig schön. Aber auch mit Alliterationen sollte man es nicht übertreiben.

Einfach mal Stilblüten sammeln. Es gibt sie in Tausend Farben und sie ergeben einen schönen Strauß. Den schenke ich dann meiner Oma zum Muttertag. Sie muss sich darüber freuen, weil sie ja meine Oma ist.

Heute Abend gibt es vielleicht noch ein wenig Zukunft, aber jetzt ist Mittag und die Sonne und die Welt sind noch nicht untergegangen.

Sonnenstrahlen schmecken nach Vokalen. Mnn knn ch hn lbn, aber das wird schwerer, das bleibt dunkel.

Ich schiebe hin und wieder Wolken dazwischen, um nicht ganz so laut zu kreischen und den nicht existenten Faden nicht zu verlieren.

Das hier ist meine Zeit. Allein meine. Ich halte die Zeit an, indem ich die Sanduhr auf die Seite lege. Rinnen darf die Asche dann später wieder, Wunden zu kühlen.

3. Schreiben zu dürfen. Einen Ort zu haben, an dem alle schreiben, wo alle das Verlangen kennen nach leerem Papier und Bleistift, nach leerer Zeit und übervollem Kopf.

Seltsam irgendwie.

Schon gut, nur … ich bin doch nicht so allein, wie ich gerne glaube. Ich bin nicht der einzige Sisyphos am Berg der Verlagswelt, an dem der eigene Anspruch immer wieder abrutscht. Hinunterrollt. Und wieder angeschoben werden muss, einem inneren Zwang folgend.

Ich bin doch kein einsames Genie, das sich heldenhaft allein dem Kampf mit der Sprache stellen muss.

Schreiben dürfen. Weil es einfach nicht ohne geht. Aber endlich dürfen. Und nicht nur müssen, um den Druck loszuwerden, und sich konzentriert den sinnvollen Aufgaben stellen zu können. Schreiben dürfen, weil es die einzige Möglichkeit ist, sich den Aufgaben des Lebens zu stellen. Für mich jedenfalls.

Schreiben. Allein in meinem Kopf. Endlich mal in Ruhe und Stille und doch mit dem Wissen, die anderen sind da und verstehen. Tolerieren nicht nur, sondern verstehen. Weil ich halt doch nicht so alleine bin.

Und was am Ende daraus wird, ist im Grunde egal.

Bisher habe ich ja noch alles überlebt. Und wenn ich am Ende wieder kellnern muss oder unwillige Jugendliche unterrichten, ist auch das in Ordnung.

Und sogar gut. Weil ich schreiben darf. Und mir daraus die Kraft hole, der Welt zu begegnen. Hinter dem vordergründigen Unwillen der Jugendlichen die Verunsicherung zu sehen und die Resignation. Weil lernen halt nicht allen so leicht fällt wie mir. Und nicht alle das Glück hatten, zwischen all den schlechten auch ein paar gute Lehrer gehabt zu haben.

Unterrichten ist ja eigentlich doch ganz schön. Weil jeder in seinem Leben das Glück gehabt haben sollte, wenigstens einen Lehrer zu haben, der an ihn glaubt.

Zu schreiben. Um an mich selbst zu glauben. Und dadurch auch an andere. Nur wenn ich Gutes in mir trage, finde ich es auch in der Welt.

Schreiben dürfen. Weil nur so Gutes in mir entsteht.

Man muss noch Zweifel in sich tragen, um etwas Neues gebären zu können.

(24.10.2017)

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