Ihr möchtet, dass eure Texte den Leser richtig packen? Und dass sie bei aller Spannung dennoch nicht banal und reißerisch werden? Damit eure Texte eure Leser fesseln und gleichzeitig gesellschaftlich relevant sind, sollten sie moralische Gefühle im Leser erzeugen.
Moralische Gefühle
Jeder Autor will Gefühle beim Leser hervorrufen. Er soll mit der Hauptfigur lachen und weinen und den ganzen Weg mit ihr fühlen. Was sind nun aber moralische Gefühle?
Moralische Gefühle sind Gefühle, die von moralischem Fehl- oder Vorbildverhalten hervorgerufen werden. Wir können sie in vier Gruppen unterteilen: a) Unsere Gefühle, wenn wir beobachten, wie andere sich falsch verhalten (Zorn, Ekel, ggf. Mitleid mit dem Opfer) oder b) wie sie sich moralisch vorbildlich verhalten (Bewunderung), und c) unsere Gefühle, wenn wir selbst uns falsch (Schuld) oder d) richtig (Stolz) verhalten.
Dabei geht es weder um blinden Zorn noch um Stolz über eine sportliche Leistung. Um von moralischen Gefühlen zu sprechen, müssen sie sich immer auf eine moralische Situation beziehen.
Wie rufen wir diese Gefühle im Leser hervor? Die Figuren können vier Mustern folgen:
1. Der Fiesling
Der Fiesling soll im Leser Zorn und Ekel hervorrufen, wenn seine Opfer genauer beleuchtet werden auch Mitleid für diese. Dabei darf er nicht zu stereotyp daherkommen, weil die Leserin ihn sonst nicht mehr ernst nimmt. Er darf aber gern auch die Hauptfigur sein – wir müssen seine Opfer weder kennen noch uns in sie einfühlen, um erkennen zu können, dass er fies ist.
Ob der Fiesling in der Leserin Zorn, Ekel oder Trauer hervorruft, ist abhängig von ihrer eigenen Seelenstruktur. Um diese Gefühle überhaupt erzeugen zu können, sind einige Dinge sehr wichtig.
– Er muss es besser wissen. Wenn er nicht weiß, dass er jemanden verletzt, können wir ihm sein Verhalten nicht übelnehmen.
– Er muss anders können. Wird er von inneren oder äußeren Zwängen zu seinem Verhalten gezwungen, trifft ihn keine Schuld.
– Sein Verhalten muss verständlich sein. Auch wenn wir sein Verhalten nicht entschuldigen wollen – sonst würde es keinen Zorn hervorrufen –, muss sein Verhalten erklärbar sein, damit die Leserin ihn als reale Figur wahrnehmen kann.
Vielleicht hilft es, wenn der Autor selbst auch wütend auf seine Figur ist. Wenn der Autor seine Figur zu sehr liebt, wird die Leserin auch etwas Liebenswertes in ihr finden. Aber es ist durchaus auch spannend, über ekelhafte Figuren zu schreiben.
2. Die Heilige
Niemand macht immer alles richtig. Niemand ist immer fröhlich und gut. Das ist sehr wichtig bei der Konstruktion einer Heiligen.
Jemanden, der ohnehin immer alles richtig macht, können wir nicht bewundern, vermutlich nicht einmal glauben. Im Grunde treffen für die Heilige die gleichen Voraussetzungen zu wie für den Fiesling:
– Sie muss sich ebenfalls immer wieder neu für ihr Verhalten entscheiden. Sie darf nicht automatisch gut handeln.
– Es muss für sie mit einem Preis verbunden sein.
– Sie muss die Verführung des Bösen kennen. Und ihr widerstehen.
Sie muss Widerstände überwinden und dennoch vorbildlich sein – nur dann können wir sie bewundern.
3. Die Schuldige
Um Gefühle hervorzurufen, die wir in Bezug auf unser eigenes Verhalten empfinden, müssen wir sehr tief in die Figur eintauchen. Der Fiesling darf sich nicht selber fies finden, die Heilige sollte nicht stolz auf sich sein, damit die Muster funktionieren. Die Schuldige dagegen muss Reue empfinden – tief, ehrlich und überzeugend.
Diese Gefühle im Leser zu erzeugen, ist vermutlich noch schwerer als Zorn und Bewunderung. Denn es ist nicht ausreichend, zu behaupten „ich bereue meine Tat zutiefst“. Der Leser muss es empfinden. Er muss einerseits die Tat des Protagonisten verstehen, um ihn nicht zornig von außen zu betrachten. Er muss sich aber auch in die Opfer einfühlen, um die Schwere der Tat zu erkennen.
Auch der Autor muss sich darauf einlassen, ganz in das Gefühl der Schuld einzutauchen, auch wenn dies nicht angenehm ist. Er muss zeigen, wie es sich anfühlt, zu bereuen, mit aller Angst, dem Selbsthass, dem Zittern. Und es dann wieder brechen, damit der Leser bis zum Ende durchhält.
Ich müsste schnell noch mal Dostojewski lesen, um zu schauen, wie er das macht.
4. Der Vorbildliche
Stolz in der Leserin hervorzurufen, sollte eigentlich ganz einfach sein. Menschen sind schließlich gerne stolz auf sich.
Allerdings geht es hier ja um Stolz als moralisches Gefühl, das von einer Figur auf die Leserin übertragen wird. Es geht nicht um den Stolz, endlich mal wieder ein Buch durchgelesen zu haben. Was brauchen wir also, um die Leserin stolz zu machen?
– Wir brauchen eine Figur, die in einer moralisch schwierigen Situation richtig gehandelt hat und dies weiß. Sie darf auch stolz auf sich sein, aber sie sollte das nicht sagen. Sonst wirkt sie überheblich und die Leserin betrachtet sie eher von außen.
– Wir brauchen psychologische oder äußere Rahmenbedingungen, die das richtige Handeln in der Situation erschwert haben. Menschen sind nicht stolz auf Dinge, die ihnen einfach in den Schoß gefallen sind (außer vielleicht auf einen Sieg der Lieblingsmannschaft).
Die Leserin muss die Schwierigkeiten der Figur mit durchleben, vielleicht sogar ein bisschen früher als die Figur selbst erkennen, was richtig ist. Das gibt ihr das Gefühl, dabei zu sein, und das Geschehen mit beeinflussen zu können.
Aber es muss eine Situation sein, die die Leserin auch selbst meistern könnte, sonst empfindet sie eher Bewunderung als stolz.
Moralischer Stolz ist eins der am stärksten motivierenden Gefühle, doch ich fürchte, literarisch damit zu arbeiten, ist sehr sehr schwer.
Wozu das alles?
Was für Vorteile ergeben sich nun aus der Arbeit mit moralischen Gefühlen?
Moralische Gefühle erfordern eine moralische Situation. Über moralische Probleme zu schreiben, eröffnet einen größeren gesellschaftlichen Rahmen als individuelle Schwierigkeiten einer Hauptfigur.
Zwar sind auch unsere ganz persönlichen Wehwehchen niemals so einmalig, wie wir glauben. Die meisten Leserinnen können sich in den Schmerz einer Trennung oder das Glück einer neuen Liebe einfühlen. Doch nur zu moralischen Problemen kann der Leser Stellung beziehen. Er kann Begründungs- und Handlungsmuster erlernen und auf sein eigenes Leben anwenden. Das Buch wird ihn nicht nur eine Zeit lang von sich ablenken. Er wird es immer bei sich tragen.
Aber er wird es vielleicht gar nicht merken! Durch die Arbeit mit moralischen Gefühlen fühlt sich der Leser nicht belehrt. Er durchlebt die Situation, als wäre er dabei, und bindet sie in sein biografisches Gedächtnis ein. Er wehrt sich nicht so dagegen, wie er es vielleicht gegen den erhobenen Zeigefinger täte.
Vorsicht Propaganda!
Besonders die von euch, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind oder dort gedruckte Bücher gelesen haben, werden vielleicht aufschreien. Das ist gefährlich, der Leser übernimmt eine Meinung und weiß es nicht einmal!
Dem muss ich leider Recht geben. Alle Schreibenden, Schauspielernden, Lehrenden, auch alle Eltern sollten sich immer dessen bewusst sein, dass sie Menschen lenken. Mit großer Reichweite kommt große Verantwortung. Die Verantwortung, sich ehrlich und mutig zu äußern zu den Verbrechen, die tagtäglich begangen werden. Aber auch die Verantwortung, dem Leser ein Hintertürchen offen zu lassen.
Wenn ihr die Situation eurer Hauptfigur so komplex beschreibt, wie sie ist, gebt ihr dem Leser keine Lösung vor. Das kann natürlich dazu führen, dass er am Ende nicht stolz mit dem Protagonisten ist, weil er die Handlung nicht richtig findet. Ein einzelnes Buch wird ihn sicher nicht vom Gegenteil überzeugen.
Die sicherste Methode gegen Propaganda ist Vielfalt. Solange der Leser nicht nur eure Bücher liest, dürft ihr ihm gerne eure moralische Überzeugung mitgeben. Er wird sich schon ein eigenes Bild machen.
Zum Schluss noch ein Literaturtipp: Ich weiß zwar nicht, ob Juli Zeh das beabsichtigt hat, aber z.B. in „Unter Leuten“ arbeitet sie sehr stark mit moralischen Gefühlen, vor allem der Empörung und der Scham. Und der moralischen Irritation, wenn die Protagonistin nicht fühlt, was ich von ihr gewünscht hätte.
Kennt ihr auch Bücher, die mit moralischen Gefühlen arbeiten? Dann hinterlasst mir einen Kommentar. Und
lest! schreibt! lebt!
weitere Beiträge der Reihe:
Niemanden verletzen – 3 Stigmafallen
Wer spricht da eigentlich? – 5 Gründe für Authentizität im Schreiben
nächste Woche: Aus dem Werkzeugkoffer der Philosophen – Das Gedankenexperiment