Am letzten Wochenende war ich mal wieder in meinem Berliner Schreibretreat, dem schon hin und wieder genannten Schreibhain. Dieses Wochenende war dem Autobiografischen Schreiben und der Recherche gewidmet; dass ich die an diesem Wochenende entstandenen Texte nicht gerade in ein Medium geben mag, in dem die behandelten Menschen und deren Bekannten sie wiederfinden könnten, könnt ihr sicher verstehen.
Aber wie so oft hat das Wochenende mich über die konkreten Schreibübungen hinaus zum Nachdenken angeregt – was ist das überhaupt, autobiografisches Schreiben? Nach den eher therapeutisch angelegten Romanideen meiner Jugend hatte ich doch nie mehr das Ziel, einen autobiografischen Roman zu schreiben. Die Blogtexte dagegen – in diesem Format habe ich schon den Anspruch, so authentisch wie möglich meine Sicht auf die Welt wieder zu geben. Die Menschen, mit denen ich meine Welt teile, können dabei sicher nicht ganz außen vor bleiben, sie prägen meine Welt doch genauso stark wie meine Gedanken und Gefühle oder die „Naturnotwendigkeiten“, „Kulturnotwendigkeiten“ eher.
Doch sind die Texte autobiografisch? Auch meine Blogbeiträge sind in gewissem Sinne fiktiv, denn sie sind literarisch überspitzt, sie verschmelzen mehrere Erlebnisse zu einem, verändern die Reihenfolge, lassen aus. Schon allein die Auswahl dessen, was ich beschreibe, macht die Texte zu einem Stück Fiktion, schließlich gebe ich keinen Bericht meines ganzen Lebens. Ich wurde einmal darauf angesprochen, dass meine Texte doch sehr düster seien, dass man denken könne, mein Leben sei so düster. Nun ja, während ich diese Texte schreibe, ist es das. Wenn die Sonne brennt und das Leben lacht, dann schreibe ich nicht. Mein Tablet fühlt sich nicht wohl in der Sonne und meine Füße tanzen zu gerne, um eine Möglichkeit dazu auszulassen.
Verlieren meine Texte dadurch an Authentizität? Nein. Sie sind so, wie sie sind, absolut wahr und absolut meine Texte, auch wenn ein beliebiger andere dieselbe Situation ganz anders erlebt haben mag. Das macht doch diese Art Texte gerade aus, sie geben eine Perspektive auf eine Situation oder Fragestellung, nicht die wahre, nicht die einzig mögliche, aber eine für mich wichtige. Sonst würde ich sie nicht aufschreiben.
Und dazwischen, zwischen all den Tänzen und all den Tränen ist mein Leben wie jedes Leben – schrecklich langweilig. Warum sollte ich das notieren? Kein Biograf täte das.
Und sind meine Romane rein fiktiv? Gott nein! Wie sollte das aussehen? Ich müsste über Wesen schreiben, die überhaupt nichts mit Menschen gemein haben, keine menschlichen Gefühle hätten (oder deren Mangel erkennen lassen), ich müsste eine Welt erfinden, für die es nicht einmal eine Sprache gibt. Im Moment schreibe ich über eine junge Frau, die jobbt und schreibt – welch Überraschung, dass ihre Geschichte mich interessiert! Bin ich diese Frau? Nein. Sie ist – auf jeden Fall – ein Teil von mir. Ist ihre Freundin meine Freundin? Auf keinen Fall! Ihre Freundin tut, was sie tut, um die Geschichte voranzutreiben. Meine Freundin kennt die Geschichte nicht und wird sich wohl kaum an mein Drehbuch halten. Wenn etwas, was ich erlebe, gerade gut in die Geschichte passt, nehme ich es auf. Aber das ist dann ein Zufall.
Meistens sind auch gleich mehrere meiner Figuren verschiedene Teile von mir – schließlich soll ich sie doch kennen und wie könnte ich jemals einen anderen so kennenlernen wie mich selbst? Ich weiß, viele sagen, meistens kennt man sich selbst nicht so gut, wie andere einen kennen. Und in einem gewissen Sinne ist das sicher wahr. Aber so meine ich das hier nicht. Was ich meine, ist, auch mich kann ich schreibend kennenlernen und formen, je nachdem, wohin ich mit der Geschichte meines Lebens will, wie meine Figuren. Nur in einem bestimmten Rahmen natürlich, doch auch meine Figuren sind abhängig von ihrem Kontext. Mich und meine Figuren kann ich ändern, sich entwickeln lassen. Andere nicht. Deshalb auch können andere maximal Ausgangspunkt für eine Figur sein. Denn, wie gesagt, ich schreibe keinen Bericht.
Um den ganzen Kontext der Vermischung von Biografie und Fiktion – in beide Richtungen – dreht es sich übrigens auch bei meiner Figur: Ihre Biografie gibt ihr den Anlass für eine Fiktion und die Entwicklung der Fiktion überträgt sich in ihr Leben – aber das nur am Rande.
Wenn ich mal eine konkrete Person in ihren körperlichen Eigenschaften eins zu eins beschreibe, dann sind das in der Regel völlig Fremde, Menschen im Zug oder im Café, die ich gerade aus irgendeinem Grunde interessant fand. Und denen ich – völlig frei – ein Leben und eine Persönlichkeit erfinde. Ist diese Erzählung dann autobiografisch oder fiktiv? Weder noch oder sowohl als auch oder – gibt es da überhaupt einen Unterschied?
Also – sollte jemand sich oder einen anderen in einem meiner Texte wiedererkennen: Schön! Habe ich also etwas erschrieben, das auch andere erleben, das nicht nur in meinem Kopf passiert („erschrieben“ ist übrigens ein Unkonzentrationsfehler (warum heißt das Konzentrationsfehler? Sie passieren doch gerade, weil man sich nicht konzentriert?), ich sitze am Sonntagnachmittag im Zug von Berlin nach Magdeburg, mit vielen vielen anderen und mit vielen vielen Gedanken gleichzeitig im Kopf. Aber ich finde das Wort so schön und so treffend, dass ich diesen Fehler nicht korrigiere). Und manchmal schreibe ich tatsächlich etwas, was ich eins zu eins so erlebt habe, ohne die anderen Figuren literarisch umzuformen. Doch das ist selten. Und niemals ist es eine objektive Wahrheit. Liebe Eltern, Geschwister, liebe Andere, keine Sorge, ihr seid nicht wirklich so, ich habe es ein bisschen so wahrgenommen, sehr stark durch Erinnerung verformt und dann der Geschichte angepasst, die ich schreiben wollte. Also vermutlich seid ihr gar nicht so und ich bin auch nicht das ich, aber die Worte haben einfach gemeint, in dieser Reihenfolge richtig zu sein.
Und jetzt zum Schluss doch noch eine Übung, die im besten Sinne fiktiv autobiografisch ist:
Die geheimen Gedanken eines Gegenstandes, meiner Wasserflasche, in zehn Minuten automatisch heruntergeschrieben.
Was diese Gedanken jetzt psychoanalytisch über mich und mein Unterbewusstsein aussagen, möge mir ein anderer sagen. Wirklich wichtig ist das jedoch sicher nicht – denn auch das war nur ein Moment, der durch etwas ausgelöst wurde und verging.
Einst stand ich mit zig anderen in einem Regal, eine wie sie, ein bisschen anders von außen, von innen doch gleich, von innen leer und die Haut aus kaltem Glas, warum hat sie gerade mich gewählt, weil ich hübsch aussehe, sonst nichts, ich will nicht ausgewählt sein, hätte sie mich doch stehen gelassen, im Regal hatte ich meine Ruhe, jetzt schleppt sie mich herum, füllt mich mal mit Saft, mal mit Wasser, je nachdem, was sie will, nicht was ich will, ich bin ihre Lieblingsflasche geworden, aber was habe ich davon, ich nutze mich nur stärker ab, ich werde immer mehr beschmutzt, wie kriegt man denn eine Dichtung auch wieder richtig sauber, wenn Fruchtfasern an ihr angetrocknet sind und faul ist sie, sie wäscht immer zu spät ab, ich wollte nicht, dass sie mich mitnimmt, ich tue ihr nicht gut, ich war viel zu teuer, sie kann sich mich eigentlich gar nicht leisten, und schwer bin ich auch, aber doch so gut für die Umwelt, das Glas halt und so, ich weiß nicht, was ich sagen soll, leer bin ich, meistens leer, nie mit Kaffee gefüllt, oder mit Alkohol, oder mit Leben, höchstens dem, was in Leitungswasser halt so lebt, was soll ich nur 10 Minuten über mich erzählen, es gibt nichts zu erzählen, ich bin doch nur eine wie hundert andere, eine Wasserflasche aus Glas, wie sie gerade in sind um die Umwelt zu schonen, ein Trend, der wieder verblassen wird, sobald allen auffällt, wie anstrengend es ist, immer eine Glasflasche mit sich herumzutragen, dann steh ich im Schrank und staube ein, jetzt schaukelt sie mich noch lässig am Henkel, ihr gefällt mein Aufdruck, mein Äußeres, aber ich bin leer, so leer bin ich und müde und sprachlos, ich weiß nicht, was ich sagen soll, und wiederhole das nur immer wieder, ich drehe mich immer wieder im Kreis, ich weiß auch nicht recht, warum ich noch sprechen soll, warum soll ich noch sein, eine andere Glasflasche könnte meinen Platz einnehmen, es würde doch niemand merken, sie hat so viele Flaschen im Schrank, im Moment bin ich ihre Lieblingsflasche, aber was habe ich davon, ich bekomme nur mehr Macken vom Herumtragen, schon jetzt ist das Dichtungsgummi angegriffen, ich weiß nicht, wie lange ich dieses Leben noch durchhalten soll, die Fruchtsäure ist auch nicht gerade angenehm, sie trinkt am liebsten Smoothies aus mir, dafür eigne ich mich gut, meine Öffnung ist schön groß und ich lasse mich gut reinigen, nur am Dichtungsgummi nicht, aber das geht allen Glasflaschen so, ich bin hübsch und praktikabel, das ist auch schon alles, ist das ein Daseinszweck, ich bezweifle es sehr, leer bin ich, so leer, und müde, ich glaube das habe ich schon mal gesagt, und ich weiß auch gar nicht, warum ich immer noch rede, ich mache halt so weiter, wer noch redet, ist noch nicht tot, wer noch lacht, wird noch gesehen, vielleicht wäre ich gern mal mit Salzwasser gefüllt, aber das würde sie nicht trinken, oder mit Schierlingsextrakt, das hätte was, das wäre nur was für einen Abend, ein einmaliges Erlebnis, aber ein großes, etwas von Bedeutung, etwas, an das sich Menschen erinnern, wie ich dann auf dem Boden zerschelle, weil sie mich loslässt und Blut über meine Scherben erbricht, ich würde das dann ja nicht mehr merken, ich wäre dann ja schon hinüber und der schicke Aufdruck würde wahrscheinlich ein paar Glasscherben zusammenhalten wie ein Pflaster, aber hinüber wäre ich dennoch, wie schön wäre es doch, ein paar Glasscherben zu sein, sie könnte man dann auch retten, damit wäre ich auch einverstanden.
In diesem Sinne: Analysiert mich nicht, analysiert lieber euch, und Lest! Schreibt! Lebt!
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