
Grüße aus dem Schreibhain, ein vorletztes Mal. Ich werde es vermissen.
16.02.2019
Wichtig ist, dass er digital fotografiert
, sagte Karl. Ich sah ihn nur verwirrend an. Warum solle das wichtig sein? All die Filter machten das Bild unecht, dabei konnte man bei der analogen Entwicklung mindestens genausoviel spielen.
Davon wollte er nichts hören. Er war ein digital native, nur wenige Jahre jünger als ich, aber einige tausend Euro reicher aufgewachsen, er hatte die digitale Fotografie schon als Kind. Ich hatte die geliehene Spiegelreflex aus der Schule.
Und die wunderbaren Stunden, die ich im Labor im Keller der Schule verbracht habe! Manche Tage bin ich nur morgens zur Schule gekommen, um mich nach der letzten Stunde noch in die sichere Dunkelheit zurückziehen zu können, die nach Schwefelsäure roch und nach Staub. Wenn zum Saubermachen einmal ausnahmsweise das Weißlicht eingeschaltet wurde, die ganz normale Deckenlampe, erkannte ich den Raum kaum wieder. Kannte ich ihn doch nur im dämmerigen Rotlicht, das das Fotopapier nicht verdarb.
Überhaupt bin ich oft nur wegen der AGs zur Schule gegangen. Als Lehrerin geht es mir heute im Grunde genauso.
Aber auch das interessierte Karl nicht, er redete von Dateiformaten und Auflösung. Ich habe einen Scanner, der formt mir mein analoges Bild auch in ein JPEG, wenn ich das von ihm will. Und das Bild klebt noch leicht vom Stopbad, das ich nicht ausreichend abgespült habe, ich hatte es doch immer zu eilig, die fertigen Bilder aus dem eiskalten Wirlpool zu holen, um sie draußen bei natürlichem Licht betrachten zu können.
Weichzeichner brauchte ich in der Schwarzweißfotografie jedenfalls nicht. Und wenn ich eine Fotomontage gemacht habe, hat es jeder erkannt, man musste mir nicht bei jedem Bild unterstellen, es sei eine Fälschung. So gut waren unsere Vergrößerer nicht. Auch wenn es sicher möglich gewesen wäre.
Blautöner und Sepia gab es nur an besonderen Tagen. Die Tönungschemikalien waren zu teuer für den regelmäßigen Gebrauch. Das ist der einzige Vorteil der Digitalfotografie, die ich gelten lasse. Aber Karl, dessen Eltern ihm auch ein eigenes Labor in dem kleinen Bad neben seinem Jugendzimmer hätten einrichten können, kann das gar nicht wertschätzen. Und genausowenig schätzt er das einzelne Bild, wenn es doch nur eines von Millionen ist, zwischen denen ausgewählt werden kann. Ich musste es mir immer genau überlegen, ob ich den Auslöser betätige, schließlich hatte die Filmrolle nur 36 Chancen auf das perfekte Bild. Ich musste warten lernen.
Und bei weitem nicht jedes Negativ wurde entwickelt. Die Filmrollen waren teuer genug, auch noch Papier zu verschwenden, kam mir nie in den Sinn. Ich musste nachdenken lernen. Vorher auswählen, aus dem Möglichen, nicht dem Tatsächlichen.
Ihm sagt sein Smartphone, welches der tausend ähnlichen Bilder vermutlich das Beste ist. Als wüsste sein Smartphone, was er hatte fotografieren wollen. Es gibt gute Gründe dafür, den Vordergrund unscharf zu belassen. Es gibt gute Gründe für scharfgezogene Blätter vor dem Gesicht. Das Smartphone sucht die scharfen Kontraste von Augapfel und Pupille und stellt darauf scharf, als gäbe es nichts wichtigeres, als menschliche Gesichter zu fotografieren.
Ich habe mich stundenlang mit meinem Negativordner über die Lichttafel gebeugt, gemessen, sortiert. Doppelbelichtung aus unterschiedlicher Entfernung, wie weit muss ich das Objektiv hochschrauben, damit das Größenverhältnis passt? Wo setze ich den perfekten Ausschnitt an, will ich es wirklich so gestochen scharf haben? Wie wäre es mit einer farbigen Blende?
Die Planung meiner Collagen war nicht besser für den Rücken oder die Augen als die seiner. Die uralten Geräte in der Schule haben sicher nicht weniger Strom verbraucht als seine Hochleistungsrechner.
Trotzdem – ich kann mir nicht helfen, aber das ist doch nicht echt. Ich habe achtsam viele Stunden mit einem einzigen Bild verbracht. Er verbringt eine Stunde damit, unendlich viele Bilder wieder zu löschen. Wegzuwerfen, weil sie nichts wert sind.
Was hatte Karl gerade gesagt?
17.02.2019
Während sie durch das Zimmer wanderte, entdeckte sie das Terrarium, das Paul zu Forschungszwecken im Wohnzimmer aufgebaut hatte.
Es war genauso tot wie er, nie kümmerte er sich, immer saß er nur vor dem Fernseher und guckte Netflixserien. Zwei Monate war er jetzt schon zu Hause und nichts änderte sich.
Marianne klopfte leise und melodisch gegen das Glas. Gottseidank war er nicht so weit gekommen, die geplanten Geckos in das Terrarium umziehen zu lassen. Seine Verabredung mit dem Tierhändler hatte er platzen lassen, auch wenn die Tiere schon bezahlt waren. Aber sie hatten es besser dort, wo auch immer sie jetzt gerade waren. Hier hatten sie eine Menge Verstecke und Spielzeuge, aber niemand, der sich angemessen um sie kümmern konnte. Marianne hatte doch schon genug damit zu tun, sich um Paul zu kümmern.
„Was guckst du?“
Paul antwortete nicht. Marianne fragte sich langsam, ob sie eigentlich noch seine Partnerin war oder schon zu seiner Mutter geworden. Sie wollte diese Rolle nicht, die er ihr aufzwang.
„Hast du heute nicht deinen Arzttermin?“
Paul zuckte mit den Achseln. „Ich nehme die Tabletten doch. Du beobachtest mich doch immer dabei, du lässt nie zu, dass ich sie auch nur einmal vergesse. Hast du eine Veränderung bemerkt?“
Jetzt schüttelte Marianne nur wortlos den Kopf. Er hatte ja recht. Aber dann waren vielleicht die Tabletten nicht das Richtige, dann brauchte er einfach etwas anderes. Und sie wusste nicht, was.
Mit einem Tastendruck übersprang Paul das Intro seiner Serie. Er schaute vermutlich auch schon die siebte Folge, ohne einmal aufgestanden zu sein. Vor ihm stand die leere Kaffeekanne und eine Schale mit aufgequollenem, breiigen Müsli.
„Hast du überhaupt schon etwas gegessen?“
Paul nickte zu der Schale hin. Ja, sie hatte voller sein können. Vielleicht. Warum machte er sich eine so große Portion, wenn er sie dann doch nicht aufaß?
„Es muss sich etwas ändern, Paul! Ich kann das so nicht!“
„Was soll ich denn tun?“ Wenn er jetzt wieder anfing, zu weinen, wäre es um Marianne geschehen. Es hatte sie doch immer so beeindruckt, dass er ein Mann war, der weinen konnte. Der seine Gefühle zeigte. Aber mittlerweile hatte er so viele Gefühle, dass sie ihre eigenen nicht mehr wahrnahm. Immer trug sie seine Gefühle, immer ging sie auf Zehenspitzen in ihrer gemeinsamen Wohnung, um ihn nicht zu stören. Immer fragte sie sich, was sie noch mehr für ihn tun könnte.
„Ich weiß es doch auch nicht. Deshalb sollst du ja zum Arzt gehen. Der weiß, was du tun kannst. Dafür ist er da.“