
Sie sagen, ich solle mich nicht so unter Druck setzen, mir Ruhe gönnen. Aber sie sagen nicht, wer meine Miete bezahlt, wenn ich loslasse.
In der vergangenen Woche habe ich meinem Arbeitgeber mitgeteilt, dass ich mich wieder auf Jobsuche befinde. Er gibt sich keine größere Mühe, mich zu halten, also hat wohl auch von der anderen Seite her schon eine Weile nicht mehr alles gestimmt.
Neben Themen im Team, die ich hier nicht ansprechen will, und finanziellen Dingen habe ich vor allem zwei Probleme: Einerseits einen wachsenden Frust, weil ich das Gefühl habe, die Falschen zu unterrichten, und anderseits zunehmende Angst.
Eine Therapeutin hat mal geschlussfolgert, meine Schulzeit müsse ziemlich traumatisch gewesen sein. Ich wollte das zu dem Zeitpunkt nicht wahrhaben, schließlich erinnere ich mich nicht an wirklich viel und nichts war wirklich schlimm. Ja, ich hatte Angst davor in die Schule zu gehen, ich habe mich in Pausen vornehmlich in der Nähe des Lehrer*innenzimmers herumgedrückt und manchen Unterricht geschwänzt, weil nicht im Unterricht zu sein weniger gefährlich schien. Aber traumatisch? An anderen Schulen gibt es Drogen und Schusswaffen, bei uns waren es doch nur Spott, geklaute Stiftemäppchen und gestellte Beine. Lachen und Lehrer*innen, die zuschauen, ohne etwas zu unternehmen.
Selber Lehrerin zu werden war eine stetige Re-Traumatisierung, das weiß ich jetzt. Ich dachte, es könnte eine Form der Therapie sein. Ich dachte, ich könnte anderen Kindern helfen, nicht das gleiche erleben zu müssen wie ich, so dem Ganzen einen Sinn zu geben. Nach fast fünf Jahren muss ich zugeben, dass es nicht funktioniert hat, jedenfalls nicht an dieser Schule, nicht so, nicht jetzt. Das tut weh.
Und es ist unendlich frustrierend, Ethik zu unterrichten in einer Zeit, in der die Kinder so viel reifer und weiter sind als die Erwachsenen. In einer Stunde begeistert den Vorträgen zu lauschen, die meine Drittklässler*innen zum Thema Umweltschutz in Eigenarbeit (und Elternarbeit) vorbereitet haben, und dann in der Pause den Kolleg*innen zuzuhören, die sich über die letzte Kreuzfahrt, den nächsten Urlaubsflug unterhalten und ihr Mittagessen aus einer Einwegsverpackung essen. Von einer Erstklässlerin gefragt zu werden (wegen eines frisch rasierten Sidecuts), ob ich ein Junge oder ein Mädchen sei (obwohl sie mich im gleichen Satz als „Frau“ ansprach, war wohl für sie kein Widerspruch), und dann einen großen Streit alle gegen mich auszulösen, als ich danach frage, ob der Lesekönig nicht vielleicht gegendert werden könnte.
Nicht alle Kinder sind ethisch so weit wie die einer Privatschule wie der, an der ich unterrichte. Aber sie sind aufgeschlossener. Sie glauben nicht, das Recht zu haben, so weiter zu machen wie bisher, weil sie es ja schon immer so gemacht haben. Sie werfen mir nicht vor, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Und trotzdem darf ich nur Kinder unterrichten, weder ihre Eltern, die ihre Kinder auf Safari schleifen, noch die Kolleg*innen.
Das bricht mir immer wieder aufs Neue das Herz. Das kann ich nicht mehr.
Aber ich kann auch nicht einfach kündigen und mich selbstständig machen. Wer würde mir einen Startkredit geben, wenn ich aus gesundheitlichen Gründen, wegen Depressionen, kündigen muss? Wer würde mir zutrauen, dass ich selber mich um mein Einkommen, meine Krankenversicherung, meine Altersvorsorge kümmere? Ich traue es mir selbst nicht zu.
Ich soll mich nicht überfordern. Aber ich habe nur ein Leben und eine Gesellschaft, in der ich lebe. Ich kann nicht einfach irgendwo hingehen, wo ich davon lebe, meinen kleinen Garten zu bestellen, eine Ziege zu pflegen, am Abend mit Muskelkater in der Sonne zu liegen. Auch wenn das vielleicht gesünder für mich wäre. Für viele von uns.
Die Angst nimmt zu. Ich bin auf Jobsuche. Und ein Teil von mir beginnt auch zu träumen, wie mein Leben wohl wäre, wenn ich diesen oder jenen Job bekäme, wenn ich mehr Aufträge für Schreibworkshops und Lektorate hätte oder ein Stipendium für meinen Roman, wenn ich endlich meinen Laden eröffnen würde.
Die nächsten Wochen bleiben spannend. Ich halte euch auf dem Laufenden.