Schreiben als Selbstfürsorge · Schreibmenschen

Wer bin ich? – zum Ich kommen mit dem Tagebuch

„Vom Sinn eines Tagebuches:
(…)
Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen. (…) Wir können nur, indem wir den Zickzack unsrer jeweiligen Gedanken bezeugen und sichtbar machen, unser Wesen kennenlernen, seine Wirrnis oder seine heimliche Einheit, sein Unentrinnbares, seine Wahrheit, die wir unmittelbar nicht aussagen können, nicht von einem einzelnen Augenblick aus –.“

Max Frisch, Tagebuch 1946-1949

Der erste Block meiner „Selbstfürsorge mit dem Stift“-Reihe beschäftigt sich damit, wie wir uns schreibend kennenlernen können. Schließlich können wir nur dann gut für uns sorgen, wenn wir wissen, was wir wirklich brauchen. Und das ist nicht so einfach, wie es klingt.

Sehr erfreut, meine Bekanntschaft zu machen

Wer kennt das nicht – wir waren uns so sicher, dass uns der Urlaub in Afrika gefallen würde, aber wir sterben fast vor Hitze. Wir stopfen uns den Bauch mit Schokolade voll, um ein Loch im Herzen zu füllen. Wir stürzen uns voller Motivation in das Germanistikstudium und merken erst nach vier Semestern, dass wir eigentlich doch lieber mit den Händen arbeiten wollen.

Sich selbst zu kennen ist wohl das Wichtigste und Schwerste zugleich. Sprichwörtlich kennen uns zwar unsere Liebsten besser als wir selber, aber auch deren Kenntnis ist begrenzt. Daher sollten wir uns nicht erst in Krisenzeiten Gedanken über uns selber machen. Investieren wir regelmäßig Zeit und Energie in die Selbsterkenntnis, kann so manche Krise verhindert werden.

Ein Buch für alle Tage

Die erste Methode, sich schreibend selber kennenzulernen, ist das klassische Tagebuch. (Das Tagebuch als wohl bestuntersuchte Technik der Selbsthilfe kann für alle Zwecke der schreibenden Selbstfürsorge genutzt werden, heute konzentriere ich mich jedoch auf die Selbsterkenntnis.)

Dabei ist nicht notwendig, wirklich jeden Tag etwas zu schreiben. Um das Tagebuchschreiben jedoch als Gewohnheit zu etablieren, solltet ihr es täglich versuchen. Schon wenige Minuten täglichen Schreibens verbessert Studien zufolge das psychische und physische Wohlbefinden.

Aber was genau verstehen wir jetzt unter einem Tagebuch?

Was?

Tagebücher gibt es in vielen verschiedenen Formen. Da gibt es das knappe Logbuch, das in Stichpunkten festhält, was passiert ist; das Lesetagebuch, das Gedanken zur Lektüre fixiert; das Ernährungs- oder Schmerztagebuch, das nur bestimmte Aspekte des Alltags sichert. Ob Reise- oder Alltagstagebuch, es sollte Gedanken und Gefühle enthalten, um die hier behandelten Wirkungen zu erzielen.

Diese Art Tagebuch, das viele von uns als Kinder und Teenager geführt haben und das uns immer ein wenig peinlich war. Dabei gibt es – wie bei so vielem, das uns als Teenager peinlich ist – gar keinen Grund für Scham. Oscar Wild sagte, er würde nie ohne Tagebuch verreisen, denn man solle immer etwas Spannendes zu lesen dabeihaben. Und es ist nichts Peinliches daran, sich seine Gefühle einzugestehen. Oft verlangt es sogar große Stärke.

Aber wie machen wir das?

Wie?

Wichtig ist, durch das Schreiben Abstand zu unseren Erfahrungen zu gewinnen. Dies passiert nicht automatisch! Wie beim Grübeln können wir uns auch beim Schreiben um immer das gleiche Thema drehen und uns dabei mehr schaden als nutzen. Indem wir beim Schreiben jedoch auf etwas Geschriebenes zurückschauen können, erkennen wir Gedankenschleifen und können sie durchbrechen.

Geben wir automatisch und unzensiert Gefühle wieder, gelangen wir automatisch in eine Reflektion über diese Gefühle. Schon allein die Wut beim Namen zu nennen ist der erste Schritt dieser Reflektion. Der zweite besteht darin, Gründe für seine Gefühle zu nennen oder auch die Tatsache, keine Gründe zu kennen. Versucht mal, nur fünf Minuten wütend zu schreiben, ohne über die Wut zu reflektieren – es ist nicht möglich. Denn anders als beim Schreien oder Zuschlagen nutzt ihr Wörter. Wir alle haben eine Abneigung dagegen, uns zu wiederholen. Und sobald wir Synonyme suchen, reflektieren wir.

Auch eine Übernahme anderer Perspektiven ergibt sich fast automatisch, wenn wir länger über ein Thema schreiben. Je mehr wir unsere eigenen Erlebnisse in Geschichten einbauen, desto besser können wir sie akzeptieren.

Alle anderen Merkmale sind ganz euch überlassen – ob ihr täglich schreibt oder nur gelegentlich, über aktuelle Erlebnisse und Gedanken oder belastende Erinnerungen, abends ein paar Sätze oder regelmäßig zwanzig Minuten, ganz persönlich oder in kleinen Geschichten. All das hängt von euren Vorlieben ab. Hauptsache ihr schreibt!

Wozu?

Die positiven Effekte eines Tagebuchs sind mittlerweile durch zahlreiche Studien belegt. Menschen, die Tagebuch schreiben, sind körperlich und psychisch gesünder, sie leben bewusster und haben weniger Stress.

Viele dieser Effekte lassen sich auch auf die anderen in dieser Reihe angesprochenen Methoden übertragen. Sie helfen uns, uns selbst besser kennenzulernen, unsere Gefühle auszuleben und anzunehmen, unsere unterbewussten Wünsche zu erkennen. Beim Lesen älterer Einträge erkennen wir, was wir früher gedacht und gewollt haben. Aber auch beim Schreiben selbst haben wir oft unverhoffte Einsichten.

Schreiben strukturiert die Gedankenfetzen, die uns immer wieder durch den Kopf fliegen, und entlastet so das Arbeitsgedächtnis. Autobiografisches Schreiben kann auch als Gedächtnisstütze fungieren.

Auch wenn das Schreiben allein natürlich noch nichts verändert, ist es ein nützlicher Baustein eines guten Lebens.

Übung: Eine Woche Tagebuch

Also, ran an die Stifte! Für die kommende Woche habe ich für jeden Tag eine Impulsfrage, die euch ins Tagebuchschreiben bringen kann. Schreibt ehrlich, frei, ohne euch einzuschränken. Natürlich sind die Fragen nur Vorschläge, die euch nicht davon abhalten sollten, andere euch wichtige Gedanken zu notieren.

  • 1. Tag: Worüber habe ich mich heute gefreut?
  • 2. Tag: Was lief heute schief?
  • 3. Tag: Was wünsche ich mir für die kommende Woche?
  • 4. Tag: Wen habe ich heute gesehen?
  • 5. Tag: Welchen heutigen Moment will ich niemals vergessen?
  • 6. Tag: Was habe ich heute geschafft?
  • 7. Tag: Wie habe ich mir heute Gutes getan?

Literaturtipps:

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