Neminem laede, imo omnes, quantum potes, iuva! (Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soviel du kannst!) Arthur Schopenhauer
Niemanden zu verletzen ist laut Schopenhauer Prinzip jeglichen moralischen Handelns. Verstehen wir uns als moralisch sensible Autoren, müssen wir es also auch zum Prinzip unseres Schreibens machen. Dabei geht es nicht um political correctness oder Unehrlichkeit, auch nicht darum, dass unsere Figuren keine Schwierigkeiten zu durchleben hätten, das wäre ja langweilig. Aber wir sollten die Leser niemals vergessen lassen, dass wir über einzelne Menschen schreiben und nicht über generalisierte Gruppen, wir selbst sollten es beim Schreiben niemals vergessen.
Nicht in die – meiner Wahrnehmung nach – drei häufigsten Stigmafallen zu tappen, erfordert vor allem Recherche und Empathie, Zeit. Und den Mut, über manche Themen auch mal nicht zu schreiben, wenn wir wissen, dass wir aus bestimmten Klischees selber nicht herauskommen.
Aber was sind nun die Stigmafallen, auf die ich euch aufmerksam machen möchte?
1. Menschen mit psychischen Erkrankungen
Psychisch kranke Menschen sind vor allem im Krimi und Thriller beliebte Figurenschablonen, sowohl als plausibler Täter als auch als einfaches Opfer. Natürlich könnt ihr die Meinung vertreten, dass jeder Mensch, der einen anderen Menschen quält oder gar tötet, „irgendwie krank“ sein muss, das hängt vom zu Grunde gelegten Menschenbild ab. Doch euren Mördern immer eine zementierte psychiatrische Diagnose voran zu stellen, ist in zweierlei Weise problematisch.
Dünne Charaktere
Einerseits führt es leicht dazu, dass ihr bei den klassischen Diagnosekriterien, die sich leicht im Internet finden lassen, stehen bleibt und eure Figuren nicht weiter ausarbeitet. Wenn die Figuren jedoch in allen Situationen so handeln, wie ihr Krankheitsbild es vorzugeben scheint, werden die Geschichten schnell vorhersagbar – wir alle haben schon zu viele Romane über Psychopathen gelesen, um ein Psychopathenstereotyp nicht zu erkennen. Interessant wäre doch, warum er so geworden ist, ob es Lebensbereiche gibt, die von seiner „Erkrankung“ nicht betroffen sind, und vieles mehr. Doch wenn der psychopathische Mörder nur eine wenig auftauchende Nebenfigur ist, weil es euch eigentlich um das spannende Ermittlerduo geht, mag der gewohnte Krimileser (Achtung, selbst ein Stereotyp!) doch gerade eine klischeereiche Täterfigur erwarten, damit er gar nicht erst in die Versuchung kommt, sich mit dem Täter zu identifizieren? Wozu also so viel Zeit mit ausführlicher Recherche und Figurenkonzeption verschwenden? Das führt dann zum zweiten, viel weiter greifenden Problem.
Immer wieder werde ich, wenn ich von meiner Arbeit mit psychisch kranken Menschen erzähle, gefragt, ob das denn nicht gefährlich wäre. Wie kommen meine Bekannten auf diese Frage? Wir haben alle schon so viele Bücher gelesen und Filme gesehen, in denen psychisch kranke Menschen Mörder waren, gewalttätig wurden oder anderweitig gruselig wirkten, dass es für viele unvorstellbar ist, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen im Großen und Ganzen „ganz normal“ sind.
Täglich grüßt das Stigma
In die Stigmafalle können wir dabei auf zwei Weisen tappen: Einerseits, indem überproportional viele Menschen mit psychischen Erkrankungen als Täter oder Opfer in Krimis und Thrillern auftauchen. Hierbei ist es vielleicht ganz hilfreich, sich mal Kriminalstatistiken auszuschauen oder über echte Mordfälle zu lesen: vielleicht können wir als psychologisch vorgebildete, empathische Menschen die Tat im Nachhinein durch eine psychische Auffälligkeit erklären, eine psychiatrische Diagnose VOR der Tat gab es jedoch selten. Was ja auch Sinn macht. Wer schon eine Diagnose hat, bekommt hoffentlich die Hilfe, die er benötigt, um niemals so ausrasten zu müssen.
Andererseits kommen jedoch in allen anderen Büchern überproportional WENIG Menschen mit psychischen Erkrankungen vor. Wenn es nicht gerade, wie in den sogenannten Sicklits, im Mittelpunkt der Erzählung um die Erkrankung geht, sind alle Figuren eines Romans in der Regel gesund. Eine psychische Erkrankung eines Nebencharakters, die mit der Hauptgeschichte nichts zu tun hat, blähe den Plot unnötig auf, mache ihn unnötig kompliziert, habe ich einmal gehört. Das mag stimmen. Allerdings suggeriert es uns auch, dass wir es merken würden, wenn jemand krank ist – dabei hat rein statistisch gesehen jeder von uns in seinem familiären und beruflichen Umfeld zahlreiche Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wir wissen davon nur nichts.
2. Arbeitslose
Unser Bild vom „typischen Arbeitslosen“ ist – abhängig von der eigenen Erfahrung mit Arbeitslosigkeit – bei uns allen verschieden. Aber schon alleine vom „typischen Arbeitslosen“ zu sprechen ist schwierig. Ein Arbeitsloser ist schließlich einfach nur ein Mensch ohne Arbeit – ganz unabhängig davon, was für einen Beruf er erlernt hat, welchen Bildungshintergrund er hat, welche Hobbys und persönlichen Probleme. Natürlich hat es auch mit meinem eigenen, unterbewussten Drang, ständig produktiv sein zu müssen, zu tun, doch als ich selber lange arbeitslos war, nahm ich Hinweise auf „den Arbeitslosen“, der nicht arbeiten will, sich krankschreiben lässt, um sich vor Terminen beim Amt zu drücken, und nur vorm Fernseher rumhängt, immer sehr persönlich.
Das berühmte Körnchen Wahrheit
Natürlich gibt es diese Arbeitslosen. Das wissen wir oder glauben zumindest es zu wissen. Schon allein darum ist es nicht besonders interessant, über sie zu schreiben. Interessanter wäre eine Arbeitslose, die vierzig Stunden die Woche ehrenamtlich tätig ist, oder ein Junge ohne Abschluss, der sich eine Selbstständigkeit im IT-Bereich aufbaut, während er sich mit dem Jobcenter herumschlagen muss.
Die Ethik des Schreibens fragt nicht danach, welche Geschichten interessant wären, auch nicht danach, welche wahr sind. Sondern danach, welche Geschichten wir erzählen sollten, damit die Welt ein kleines bisschen besser wird. Und das wären Geschichten, die Arbeitslosen Würde verleihen, in den Augen anderer, aber vor allem auch in ihren eigenen. Die sie motivieren, ihren eigenen Weg zu finden, ganz egal, ob dieser auf dem ersten Arbeitsmarkt liegt oder irgendwo querfeldein. Die sie nicht gängelnd, sondern im Gegenteil Mut machen, mit den Pseudorealitäten des „Das-ist-halt-so“ werden sie auf dem Amt schon genug konfrontiert.
3. Ausländer
Ebenso ist es mit Nichtdeutschen. Mir sind selbst in meinen eigenen Texten rassistische Tendenzen aufgefallen, die gar nicht böse gemeint waren. (Tatsächlich neige ich im Alltag dazu, Menschen mit Migrationshintergrund BESSER zu behandeln als Deutsche. Auch das ist Rassismus.) Habe ich zum Beispiel eine farbige Figur, dann beschreibe ich ihre Hautfarbe. Bei keiner meiner weißen Figuren habe ich das je gemacht. Aber ich will doch schließlich, dass der Leser weiß, dass diese Figur farbig ist!
Das Hautfarbenproblem
Um hier neutral zu bleiben, müssten entweder die Hautfarben aller Figuren bezeichnet werden oder keiner. Ersteres ist zumindest sehr auffällig, zweiteres könnte suggerieren, dass alle Figuren weiß sind, nur weil ich es bin. So wie sehr viele Autoren und Philosophen mit „Mensch“ immer „weißer, gesunder Mann mittleren Alters“ gemeint zu haben scheinen. Eigentlich möchte ich gerne, dass die Hautfarbe eines Menschen in seinem Leben keinerlei definierende Rolle spielt, also unsichtbar ist. Farbige jedoch nicht als solche zu bezeichnen hilft dabei nicht, denn die Leser wissen ja nicht, wie ich mir die Figuren vorstelle.
Bei homosexuellen Figuren ist dies einfacher. Ihre Homosexualität zeigt sich in ihrem Verhalten, in der Art, wie sie auf Menschen des gleichen bzw. des anderen Geschlechts zugehen, was für Beziehungen sie haben. Aber dann muss ich das Geschlecht der Figuren nennen, auch wenn auch das Geschlecht keine definierende Rolle haben sollte.
Menschen sowohl als männlich als auch als weiblich zu bezeichnen, ist normal. Wir gehen nicht davon aus, dass es ausreicht, nicht zu schreiben, dass Person XY eine Frau ist, damit der Leser weiß, dann wird es wohl ein Mann sein. Dann können wir uns vielleicht auch daran gewöhnen, wenn ich schreibe, dass Jona eine Weiße ist. Mit schwarzen Haaren übrigens.
Das Herkunftsproblem
Ich habe das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, nur wenige Male für Reisen verlassen. Ich kenne das Gefühl Ausländer zu sein kaum. Auch kenne ich – neben Deutschland – so gut wie kein anderes Land ausreichend, um über einen Menschen schreiben zu können, der dort geboren ist. Natürlich handelt es sich nur um eine Geschichte und natürlich lässt sich viel recherchieren. Aber die eine Figur aus Taka-Tuka-Land, die ich beschreibe, kann für meinen Leser schnell für alle Menschen aus Taka-Tuka-Land stehen.
Wie lange ist ein Mensch überhaupt Ausländer? Bis zur zweiten Generation, der dritten? Ich kenne meinen Stammbaum nur über drei Generationen, vielleicht ist meine Familie davor vom Mars gekommen und ich weiß es nur nicht. Bin ich also ein Vielleicht-Ausländer?
Da ich mich und meine Figuren gerne als Weltbürger betrachte, bleibt die Geburtsstadt solange im Dunkeln wie möglich. Das Aussehen – besonders meiner Hauptfiguren – interessanterweise auch. Trotzdem stehe ich immer wieder vor dieser Frage, auch weil andere Kulturen andere, neue Geschichten bedingen. Also – wie macht ihr das? Und wenn ihr in einem anderen Staat geboren wurdet als dem, in dem ihr jetzt lebt, wie würdet ihr euch wünschen, dass über euch geschrieben wird?
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lest! schreibt! lebt!
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