Schreibmenschen · Workshops Kreatives Schreiben

Das geheime Leben eines Möbelstücks

Aufgabe: Aus der Perspektive eines (zugelosten) Möbelstücks i.w.S. zu schreiben

Achtzig Jahre stehe ich hier jetzt schon, grün von Moder und Moos. Es ist ruhig geworden um mich. Nur gelegentliche, ihrem Herrchen oder Frauchen ausgebüchste Hunde, die ein oder andere Krähe, mal ein Eichhörnchen, sonst findet mich niemand mehr zwischen aus den Näten gegangenen Büschen fernab der Hauptwege.

Ich bin zufrieden damit. Ich habe meinen Anteil gehabt an rüstigen Rentnern, die auf meinem Rücken eine Wanderpause einlegten, und Liebespaaren, die Herzen in mein Holz eingruben. Ein schwules Paar hat mich sogar noch lange Jahr für Jahr besucht, nachdem sie ihre Initialen verschämt in einem meiner Bretter verewigten. (Ich mochte es im Übrigen immer, wenn sie sich auf mir küssten. Wie jemand das eklig finden kann, kann ich echt nicht verstehen.)

Jetzt waren sie schon lange nicht mehr da. Vielleicht haben sie sich getrennt, oder sie sind einfach nicht mehr so gut zu Fuß, sie dürften jetzt ja auch – wie alt? – bald sechzig sein.

Ich habe schon lange aufgehört damit, die Jahre zu zählen. Ich merke, wie ich langsam wieder zu der Natur werde, die ich einmal war, und mein spannenstes Erlebnis der letzten Jahre waren die Fuchsjungen, die im vergangenen Frühjahr in einer Höhle unter meinen Füßen geboren wurden.

So schlief ich schon halb an jenem Herbstmorgen, von dem ich heute berichten möchte. Es war neblig und kühl und mein Holz war glitschig, nicht der richtige Tag, um wach zu sein. Also hörte ich seine Schritte nicht und erwachte erst, als zarte Finger über die herzförmige Kerbe in meinem Holz fuhren.

„Dich gibt es ja auch noch“, sagte die traurige Stimme, die zu den sanften Fingern gehörte. Ich erkannte ihn sofort, auch wenn ich ihn Jahre nicht gesehen hatte. Und er zum ersten Mal allein gekommen war. „Dich gibt es noch und mich, aber Frank nicht mehr. Nach all diesen Jahren – wir hatten schon nicht mehr daran geglaubt, weißt du? Die Medikamente werden immer besser und er hatte schon so viele Rückfälle überstanden. Auch wenn er schon lange nicht mehr richtig gesund gewesen war, deshalb waren wir auch so lange nicht mehr hier, wir hatten uns damit abgefunden. Aber dass er sterben könnte …“

Schwer ließ er sich auf meinen Rücken sinken. „Ich habe wirklich nicht mehr daran geglaubt. Klar ist das verrückt. Er war krank. Und selbst wenn er gesund gewesen wäre – wir waren ja beide nicht mehr die jüngsten. Aber so viele Schwierigkeiten hatten wir zusammen bewältigt, die Angst vor dem Knast, die Angst vor der Krankheit und dann vorm Sterben, als klar wurde, dass er schon lange krank war. Ich habe ihn nie gefragt, wo er sich angesteckt hat, das war mir ganz egal.

„Die Einsamkeit. Wir hatten ja nur uns. Unsere Familien wollten nichts mehr von uns wissen, seit sie wussten, dass wir – Freunde außerhalb der Szene zu finden war immer schwer und innerhalb – wir waren einfach anders als die anderen. Selbst hier, wo alle sich über ihr Anderssein definierten, passten wir nicht hin. Und er war krank …

„Wir haben so gerne hier gesessen, auf die Elbe geblickt.“

Er blickte in Richtung Wasser, auch wenn man es mittlerweile hinter all den Büschen und Ufergräsern gar nicht mehr sehen konnte. Ich erinnerte mich daran, wie die beiden Männer hier früher saßen, sommernächtelang, einander vor Mücken beschützend, erzählend, lachend und oft auch schweigend. Es war schon immer eine besondere Aura um sie gewesen, eine besondere Schwermut. Aber sie hatten nie darüber gesprochen.

Er weinte nicht. Warum weinte er nicht? Er sah abgezehrt und müde aus, graue Schatten unter den Augen und weiße Bartstoppeln. Ich wünschte, ich hätte Arme, um ihn zu trösten, ich wünschte, ich hätte ihm sagen können, dass ich oft an ihn gedacht hatte und an seinen Freund, dass sie nie alleine gewesen waren.

„Ich hatte nie daran geglaubt, dass ich einmal ohne ihn sein würde, ganz allein in dieser mir so fremd gewordenen Welt. Sie war mir immer fremd, doch Frank ging das genauso, und wir beschützten einander. Was soll ich jetzt nur machen?“

Auf einmal tobte die fünfköpfige Fuchsfamilie heran, um in ihrem Bau zu verschwinden. Den Menschen hatten sie erst zu spät bemerkt, erschrocken blickten sie einander an und verharrten bewegungslos. Dann lachte der Mann leise.

„Schön zu sehen, dass du nicht allein warst in all den Jahren. Wir haben oft über dich gesprochen, über diesen Platz hier, der nur uns gehörte. Ich denke, ich werde jetzt wieder öfter kommen.“

Und dann weinte er.

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